Co-Autoren:
Peter Herweck, Executive Vice-President and Chief Executive Officer, Industrial Automation, bei Schneider Electric
Francisco Betti, Head of Shaping the Future of Advanced Manufacturing and Production, beim Weltwirtschaftsforum
Schon vor Beginn der Corona-Pandemie stand es um das weltweite Wachstum der industriellen Produktivität nicht besonders gut – in 2019 lag der Wert gerade mal bei mageren 0,7 Prozent. Dann, während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020, ging die weltweite Produktionsleistung sogar um ganze 11,1 Prozent zurück. Ein Schock, den auch die leichte Erholung in der zweiten Jahreshälfte nicht wiedergutmachen konnte.
Aber, bei aller Tragik, aus dieser unvorhergesehenen Krise können wir auch lernen: Agilität und Resilienz sind für den Betrieb und die Existenz unserer modernen Industrie einfach essentiell. Vor allem Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit sind in diesem Kontext zwei grundlegende Werte, deren konsequente Umsetzung wir mit wirkungsvollen Maßnahmen mutig vorantreiben müssen.
Offen ist nicht offen genug
Die Industrie steht deshalb vor einem Paradigmenwechsel. Denn bis dato haben geschlossene, proprietäre Automatisierungssysteme das Bild entscheidend geprägt. Die enge Herstellerbindung hat dabei oftmals Innovationskraft gehemmt und eine Entwicklung von wirklich flexiblen und agilen Anwendungen im Sinne von Industrie 4.0 verhindert. Und auch wenn mittlerweile viele Anbieter zumindest oberflächlich von „offenen“ Technologien sprechen, so ist die bisher gelebte Offenheit in Sachen Automatisierung längst nicht offen genug. Viele Anbieter haben noch keine echten herstellerunabhängigen Systeme eingeführt, bei denen die Automatisierungssoftware eines Herstellers auf der Steuerung eines anderen laufen kann. Und das hat Folgen für Industrieunternehmen: Ein unnötiger Engineering-Aufwand sowie Verzögerungen bei der Markteinführung müssen weiterhin in Kauf genommen werden. In letzter Konsequenz bedeutet das also nicht nur eine eingeschränkte Agilität, sondern auch vergebene Geschäftsmöglichkeiten.
Aus diesem Grund ist die Einführung wirklich offener, interoperabler und weltweit gültiger Standards für die Automatisierung so wichtig. Sie liegt im ureigensten Interesse aller Beteiligten – seien es Systemanbieter, OEMs, Maschinenbauer, Systemintegratoren oder Endkunden. Jeder von ihnen könnte mit echter offener Automatisierung von immensen Kosteneinsparungen profitieren. Doch letztlich ist es hier so, wie bei vielen unserer großen Herausforderungen: wegweisende Veränderungen lassen sich nur dann wirksam durchsetzen, wenn alle an einem Strang ziehen und kollaborativ zusammenarbeiten.
Der Preis des Zögerns
In puncto offene Automatisierung ist der Preis für unser Zögern hoch. Denn das Festhalten an proprietären Systemen lähmt unseren Fortschritt – während doch gleichzeitig Technologien für universelle Ansätze bereitstünden. Bedenkt man die Möglichkeiten, die sich mit offener Automatisierung hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen Systemen, Maschinen und Bedienern schon heute bieten, dürfen wir unnötig hohe Engineering-Aufwände, mangelhafte Modularisierung oder sonstige Hindernisse für eine widerstandsfähige IIoT-Vernetzung nicht länger akzeptieren.
Wenn die Mitglieder eines Teams nicht miteinander kommunizieren, dann kann das Team nicht funktionieren – selbst wenn ein Mitglied außerordentlich leistungsfähig ist. Das gilt auch für geschlossene Automatisierungssysteme. Sie lassen sich aufgrund ihrer mangelhaften Kommunikationsfähigkeiten weder unkompliziert mit Drittanbieter-Komponenten verbinden, noch können Erweiterungen und Upgrades reibungslos umgesetzt werden. Unter dem gegenwärtigen Automatisierungs-Paradigma bleibt die Weiterentwicklung der Industrie also sichtlich gehemmt. Sie wird zurückgehalten von einer überholten, weil proprietären Systemlogik, die sich in hohem Maße negativ auf so wichtige Geschäftsfaktoren wie Innovation, Effizienz, Nachhaltigkeit und Agilität auswirkt. Hier schlummert ein enormes Optimierungspotenzial – selbst, oder vielleicht erst recht, in Zeiten einer Krise.
Industrie am Scheideweg
Mittlerweile haben wir eine Art Wendepunkt erreicht. Die bisherige Systemarchitektur für die industrielle Automatisierung hat Wirtschaft und Industrie erfolgreich dahin gebracht, wo sie heute steht. Dennoch ist der entscheidende Schritt hin zu einer echten durchgängigen Vernetzung von IT und OT nur dann möglich, wenn wir unsere Denkweisen und technologischen Modelle grundlegend verändern.
Und eines ist klar: Mit der heute vorhandenen Rechenleistung unserer Computer sowie den technischen Möglichkeiten in Bezug auf die digitale Vernetzung, verfügen wir schon jetzt über alle notwendigen Mittel, um eine fundamentale Runderneuerung der Industrie zu realisieren. Insbesondere Nachhaltigkeit und Energieeffizienz müssen dabei im Vordergrund stehen. Angesichts übereinstimmender Studien und Forschungsergebnisse wird es höchste Zeit dafür. Die historische Chance, die uns unsere fortschrittliche Technologie schon heute bietet, dürfen wir nicht vergeben. Der Umstieg auf eine softwarezentrierte und offene Automatisierung bildet einen entscheidenden Schritt auf diesem Weg.
Und die Zukunft könnte sogar rosig sein: Laut Accenture wird das Industrial Internet of Things (IIoT) bis 2030 nicht nur für Billionen-schwere Umsätze sorgen, Produktivität und Effizienz von Unternehmen weltweit werden sich um ein Vielfaches erhöhen. Ein Bericht des Weltwirtschaftsforums in Zusammenarbeit mit der Boston Consulting Group bescheinigt zudem, dass etwa 72 Prozent aller produzierenden Unternehmen die Bedeutung von softwaregestützten Analyseverfahren als zunehmend hoch ansehen. 80 Prozent der Befragten gehen laut des Berichts außerdem davon aus, dass sich die Produktivität insbesondere mit Digitalisierungsmaßnahmen sowie datenbasierten Analysemethoden steigern lässt.
Universelle Automatisierung
So, wie in der IT-Welt längst üblich, kann auch die Industrie von offenen Systemplattformen profitieren. Universelle Automatisierung bedeutet, dass bestimmte Softwareapplikationen per Plug-and-Produce herstellerunabhängig gekauft oder abonniert werden können, um dann – bereits getestet und validiert – spezielle Kundenanforderungen zu erfüllen. Der Anwender wählt also wie aus einem App-Store einfach die passende Applikation für sich aus und lässt sie auf der Hardware eines beliebigen Herstellers laufen. Klingt nach Zukunftsmusik, ist mit Norm IEC 61499 aber längst Realität. Ähnlich dem Open Source-Prinzip von Linux, definiert IEC 61499 dazu eine herstellerunabhängige Softwareumgebung, die als standardisierte Automatisierungsschicht fungiert.
Indem die Softwareumgebung auf diese Weise herstellerunabhängig von der Hardware abstrahiert wird, lassen sich Fertigungslinien und industrielle Prozesse schnell und weniger fehleranfällig modellieren, umbauen und modernisieren – und das sogar aus der Ferne. Gerade angesichts immer individuellerer und mitunter schwankender Nachfrage ist der damit gewonnene Grad an Agilität und Produktivität ein entscheidender Wettbewerbsfaktor – auch in Krisenzeiten.
Plug and Produce für die industrielle Automatisierung
Für die Herausforderungen und Möglichkeiten von Industrie 4.0 ist IEC 61499 der richtige Standard. Mit ihm ist es unkompliziert möglich, Hardware- und Softwaresysteme unterschiedlicher Hersteller barrierefrei miteinander kommunizieren zu lassen. So können viele Vorteile, die eine ungehinderte IIoT-Vernetzung bietet, erst richtig genutzt werden. Ohne großen Zeit- und Kostenaufwand sind etwa neue und optimierte mechatronische Komponenten per Plug-and-Play in eine bestehende Anlage integrierbar. Die cybersichere und durchgängige IIoT-Vernetzung aller Anlagenteile ermöglicht zudem die noch effizientere und sinnvollere Nutzung von datengestützten digitalen Services.
Mit diesen Services kann eine Anlage noch weiter optimiert werden. Entsprechende Softwareprogramme zur Überwachung der Energie- und Stromverbräuche geben beispielsweise wertvolle Hinweise für eine noch energieeffizientere und ressourcenschonendere Auslegung der Anlage. Sind zudem alle mechatronischen Komponenten Teil einer gemeinsamen Lösungsarchitektur, gestalten sich auch Wartungsarbeiten produktiver und sicherer. Proaktive oder vorausschauende Wartungsmaßnahmen helfen etwa dabei, Risiken zu minimieren, Stillstandzeiten zu vermeiden und kleinere Fehler frühzeitig zu erkennen. Das schützt nicht nur das Personal und die Maschine, sondern spart auch bares Geld.
Die Zukunft der Industrie ist bereits in Reichweite. Auf Basis durchgängiger, offener Automatisierung können wir schon heute intelligente und effizient automatisierte Anwendungen entwickeln, die über ein hohes Maß an Agilität und Resilienz verfügen. Ihre „selbstkonfigurierenden“ und „selbstheilenden“ Fähigkeiten heben die industrielle Automatisierung sowie unsere Innovationskraft auf ein neues Level.
Dieser Artikel wurde im März 2021 bereits auf der Webseite des Weltwirtschaftsforums veröffentlicht.
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